Eisenbahn-Unglück



Das Eisenbahn-Unglück in Boxberg-Wölchingen vom 27. März 1923


Auf nach Berlin! 
 

 


(Obwohl das Foto hier eine Lok der BR 18 zeigt, dürfte das Bild bei der Lok BR 19 nicht viel anders ausgesehen haben Foto: Archiv Herrenknecht)



Als am 27. März 1923 der D 37 (der Schnellzug von Stuttgart nach Berlin)  um 20.17 Uhr mit mächtigen Stampfgeräuschen der sächsischen XXHV (der späteren Baureihe 19) vom Hauptbahnhof in Stuttgart in die Nacht hinausgezogen wurde, hatten die Fahrgäste ein gutes Gefühl, hatten sie doch vor ihrem Zug die damals modernste und leistungsstärkste Lokomotive der Deutschen Reichsbahn:  Zehn D-Zug-Wagen und einen Gepäckwagen sollte die XXHV auf einer Zehn-Promille-Steigung mit 50 km/h spielend befördern können, in der Ebene 630 Tonnen bei 100 km/h. Sie war damit die leistungsfähigste Schnellzuglok Europas mit dem größten je in Deutschland gebauten Lokomotivkessel und mit einer allen anderen Schnellzuglokomotiven überlegenen Zugkraft, was ihr den Titel „Sachsenstolz“ bescherte. 




(Das imposante Erscheinungsbild der Lok zeigt dieses Foto der BR 19 vor einem D-Zug bei Bebra 1928 Foto: Archiv der Eisenbahnstiftung)



Ihre außergewöhnliche Leistungsfähigkeit hatte die „Sächsin“ auf ihrer Stammstrecke Leipzig-Hof bewiesen, sodass sich die Deutsche Reichsbahn entschloss, diese besonders in Gebirgslandschaften tüchtige Lokomotive auch ins mittelgebirgsreiche Schwabenland zu holen. Sie wurde von Dresden abgezogen und war am 26.11.1922 nach Stuttgart-Rosenstein umgesiedelt worden und trug das Lokschild 19 016. 

Die schweren preußischen Schnellzugwagen, die den Fernzug von Stuttgart nach Berlin bildeten, brauchten eine so starke Lok. Mit einem solchen „Kraftpaket“ an der Spitze würde der D-Zug bis nach Osterburken keine Probleme haben. Ab da brauchte aber auch die „stärkste Lokomotive der Deutsche Reichsbahn“ Traktionshilfe, denn das Landschaftshindernis der Fränkische Platte mit seinen beinahe alpinen Steigungen hoch zur Seewiese konnte ohne Vorspann nicht bewältigt werden. Eine bereits in Osterburken wartende (und im BW Heilbronn stationierte) P 8 übernahm dann diesen Dienst und wurde als Vorspannlok vor den Zug gesetzt, sodass eine Doppeltraktion entstand. 

Und die beiden Lokomotiven erfüllten die in sie gesetzten Erwartungen, als sie die letzte Rampe von Osterburken bis zur Seewiese mit kräftigen Dampfschlägen überwanden und im danach abfallenden Gelände bis Uiffingen ihre volle Leistung entfalten konnten. Der Zug lief - so leicht und schnell, wie auf keinem anderen Streckenabschnitt - Richtung Umpfer- und Taubertal, war doch der gefürchtete Höhenscheitel „Gräffinger Hof“ überwunden. Im Zug spürte man diese Erleichterung, denn das Rollmaterial vibrierte immer weniger und die Fahrgeräusche wurden leiser. 




(Der Streckenverlauf um Boxberg wird auf dieser Ausschnittskarte gut abgebildet Karte: Archiv Herrenknecht)




Das Zugunglück in der Wölchinger Kurve 

Kurz vor Wölchingen in einer unübersichtlichen Rechtskurve am Ortseingang erkannten die Lokführer im Schatten ihrer Scheinwerferlichter ein Hindernis auf den Gleisen. Es war 23:56 Uhr als plötzlich ein harter Schlag, das Bersten von Metall und das Splittern von Holz zu hören war, denn der voll-beschleunigte Schnellzug war auf einen Güterzug aufgefahren. Er schob mit dem Gewicht und der Wucht der beiden Stahlkolossen die Endwagen mit einem lauten Krachen ineinander.
 
Das Ganze wurde von der Dunkelheit verborgen, dünn ausgeleuchtet nur von den Lichtern der Lokomotiven. Ausströmender Dampf und die klimmende Beleuchtung aus den Schnellzugwagen gaben der ganzen Szenerie einen gespenstischen Schleier und alles bei plötzlicher Totenstille. 

Dann überall Menschenlärm, Schreien, Rufen, spürbares Entsetzen. Während die Lokführer und Heizer über die dem Hang abgewandte Tür das Führerhaus ihrer Lok verliesen, konnten die Passiere ihre noch gerade-stehenden Wagen gut verlassen. 

Viele hatten bereits geschlafen, denn dieser D-Zug war quasi als Ganzes ein Nacht-Zug, in dem man auf der Reise vorschlief, um dann in Berlin ausgeruht anzukommen. 

Noch schlaftrunken kletterten die schock-erwachten Fahrgäste mit ihrem Gepäck und ihren Koffern aus dem Zug und standen ungläubig und benommen an der Böschung, bis sie von den alarmierten einheimischen Amtsträgern im öffentlichem Wirtshaussaal oder in der Kirche zusammengeführt wurden, um den Rest der Nacht abzuwarten. 

Denn die Verunglückten mußten bis zum Morgen warten bis sie zum Bahnhof gebracht wurden und mit dem ersten eintreffenden Frühzug, der unfallbedingt umkehren musste, nach Lauda zur Weiterfahrt gebracht wurden und dieser Nahverkehrszug somit zum „Rettungszug“ wurde.

Viel härter als die Reisenden hatte es durch den Unfall die Lokomotiven und das Lok-Personal getroffen. Die Wucht des Aufpralls hatten die beiden mächtigen Loks aus dem Gleis geworfen und sie waren Richtung Böschung gekippt. 

Während die Führungslok P 8 bereits vollständig neben dem Gleis lag, stand die 19 016 noch schräg auf dem Gleis und verhinderte so das Umkippen der Schnellzugwagen. Die Doppeltraktion hatte sich als Unfall-Prellbock erwiesen. Für den Schlussbremser im Güterzughaus kam in seinem völlig zerstrümmerten Bremserwagen jede Hilfe zu spät (1). Dass angesichts dieser Bilder nicht noch mehr Opfer zu beklagen waren, grenzt an ein Wunder.

Der Schienenverkehr wurde während der Streckensperrung über Crailsheim-Lauda nach Würzburg umgeleitet. Das hatte zur Folge (wie die Tauberzeitung vom 31. März 1923 meldet): „Schnellzugstation ist über Nacht Bad Mergentheim geworden. Leider nur vorübergehend! Aus Anlaß des Eisenbahnunglücks bei Boxberg wurden die Berliner Schnellzüge bis zur Freimachung des Gleises am Donnerstag-Nacht über Mergentheim-Crailsheim-Heilbronn geleitet.“ 






(Diese beiden Fotos haben „Karriere gemacht“, denn sie sind die am häufigsten verbreiteten Fotos des Unfallgeschehens (Foto 1 Archiv der Eisenbahnstiftung, Foto 2 (Repro)Foto Foto Besserer)



Als am nächsten Tag  (der Unfall geschah eigentlich am 27. März um 23:56 Uhr) der Morgen dämmertestanden viele schaulustige Einheimische auf dem Kamm der Böschung wie auf einer Tribüne und schauten neugierig in den Gleisgraben hinab, wo sich ein Bild bot, das völlig unvorstellbar war: zwei super-schwere Schnellzugloks waren umgekippt und die erste Lok hatte sich noch in die Reste eines Güterwagens verkeilt. Im Gleisgraben standen ebenfalls ratlos-wirkende Bahnarbeiter zwischen verbogenen Gleisen und zertrümmerten Wagen. 


Und auch der örtliche Fotograf, der taubstumme Karl Müller, war nun im notwendigen „Büchsenlicht“ zum Fotographieren anwesend, um seine Dokumentationsfotos zu schießen. Ihm verdanken wir alle zum Unfallgeschehen vorliegenden Bilder. 

Diese wurden aber weniger an die lokale Presse (außer es lag dafür ein Auftrag vor) verkauft, sondern waren als „Erinnerungssouveniers“ für jedermann im Foto-Atelier zu kaufen. Über diesen Weg haben es dann auch die Fotos zu anderen Fotographen (als Repro-Auftrag) geschafft und sind so in den Beständen dieser Fotographen zu finden. Einige schafften es auch in die Kreisarchive, das Landesarchiv Baden-Württemberg und in das Bildarchiv der Eisenbahnstiftung. 

Dieser private Verkauf als Erinnerungsfoto erweist sich heute als archivarischer Glücksfall, denn so überlebten - neben den zwei immer wieder erscheinenden Fotos (siehe oben!) - noch zwei bisher unbekannte Motive, da eine Familie, die im gleichen Jahr 1923 ihr Geschäft in der Bahnhofstraße 107 gründete, zwei Fotos vom Unfallgeschehen zur Erinnerung an dieses Jahr selbst erwarb.

Diese „Privatbilder“ werden nun hier zum erstenmal veröffentlicht. 



(Foto im Privatbesitz von Albert Herrenknecht)


(Foto im Privatbesitz von Albert Herrenknecht)



Eine Recherche im Stadtarchiv Boxberg ergab, dass wohl insgesamt 5 Fotos vom Unfallgeschehen existiert haben müssen. Die zwei dauerpublizierten und die hier wieder aufgetauchten weiteren zwei Exemplaren machen insgesamt vier Exemplare. Das Fünfte gilt bisher als verschollen. 

Eine Reproduktion der Fotos anhand der Original-Fotoplatten ist leider nicht mehr möglich, da bei den Kampfhandlungen am Karsamstag, dem 31.03.1945 in Boxberg sowohl das Atelier alsauch das Haus des lokalen Fotographen Karl Müller mit allen Fotoschätzen verbrannt ist und damit der gesamten lokalen Heimatgeschichte ein unschätzbarer  Verlust entstand. 

Umsomehr freuen wir uns darüber, dass nun zwei weitere bisher verschollene Unfallfotos durch unser Redaktionsteam wieder öffentlich gemacht wurden. 

Was können diese wieder-aufgetauchten Fotos an neuen Erkenntnissen zum Unfallgeschehen liefern? 

Tatsache ist, dass der mit hoher Geschwindigkeit um die unübersichtliche Rechtskurve biegende Schnellzug plötzlich schwache Rücklichter eines Güterzugs sah. Dieser war auf dem gleichen Gleis langsam voraus-fahrend unterwegs und der talwärts fahrende D-Zug in voller Fahrt zu schnell. Ein Auffahrunfall war somit unvermeidlich. 



(Die unübersichtliche Unfallkurve heute Foto Albert Herrenknecht)



Eine Vollbremsung mit zwei schweren Zugloks und der dahinter steckenden Schubkraft war nicht mehr möglich.  

Mit einem großen Knall wird der Bremserschlußwagen aufs Gegengleis geschleudert und bleibt dort zertrümmert liegen. Die Wucht des Aufpralls wird zu einer „Bande“, die die Führungsloks selbst so stark trifft, dass sie ihr Gleichgewicht verliert, umkippt und sich in die Böschung bohrt. Gleichzeitig spießen die Puffer der Lok den nun letzten Wagen des Güterzugs, einen Rungenwagen, auf. Dieser verkeilt sich vor der Lok und wird damit zu einem zusätzlichen Hebel, die Lok aus dem Gleis zu werfen und zur Böschung hin umzukippen. Wie sehr die Wucht des Aufpralls war, zeigt die Aufnahme der Lok von vorne, die sich massiv in die Böschung eingegraben hat. 

Die Unfallbilder des D-Zuges bergen eine gewisse Tragik in sich: aus der gesamten Region gibt es keine Fotos des hochwertigen „Starzuges“ Stuttgart-Berlin. Historische Fotos fahrender Züge existieren dagegen aus dem Raum Stuttgart und dem Raum Unterfranken/Thüringen. Warum war dieser Zug kein Fotomotiv? Das einzig-existierende Foto aus der Region ist ausgerechnet das Unfall-Foto von Wölchingen, was jeden Eisenbahn-Fotographen bestürzt.




(1)

Im Sterbebuch von Wölchingen am 31ten März 1923 findet sich dazu folgender Eintrag: "Das Amtsgericht in Boxberg hat mitgeteilt, daß der Hilfsschaffner Wilhelm Kunzmann 33 Jahre alt, wohnhaft in Würzburg, Seinseimerstraße 11, geboren zu Maidbrunn, verheiratet mit Magdalena geborene Schneider, zu Wölchingen am achtundzwanzigsten März des Jahres tausend neunhundert und dreiundzwanzig nachmittags zwischen elfeinhalb und zwölf Uhr verstorben sein". Protokolliert vom Standesbeamten Volk.




Autoren diese Beitrages sind unsere beiden Redakteure: Albert Herrenknecht und Dr. Dieter Thoma


Literaturangaben

Hans-Wolfgang Scharf: Die Eisenbahnen zwischen Neckar, Tauber und Main. Band 2: Ausgestaltung, Betrieb und Maschinendienst. EK-Verlag Freiburg 2001, S. 44ff.

Irmtraut Edelmann, Adolf Deißler, Günter Schifferdecker, Rudi Tack: Die Eisenbahn im Main-Tauber-Kreis. Eine Dokumentation. Tauberbischofsheim 1990, S. 305ff.

O.Haensch: Massgeschneidert. Die einzige deutsche Schnellzug-Mikado, die Baureihe 19, brilliert nicht nur im Hügelland. In: Modell Eisen-Bahner Nr. 7, Juli 2018, S. 12-18  

Tauberzeitung vom 31. März 1923






Nachtrag:
Kurze Zeit nach der Veröffentlichung unseres Artikels hat Dr. Dieter Thoma (seinerseits Stadtarchivar von Boxberg) per Zufall im Nachlass von Boxbergs Ehrenbürger, Prof. Dr. Karl Hofmann, den unten stehenden Presseartikel aus der Badischen Presse, Nr. 88 (1923), entdeckt.
Da der Artikel weitestgehend unbekannt ist und bisher in keinem Bericht zum Unfallgeschehen erwähnt wurde, wollen wir ihn hier als wichtiges Zeitdokument vollständig vorstellen.


Badische Presse, Nr. 88 (1923)
 (aus dem Karl-Hofmann-Nachlass im Stadtarchiv Boxberg) 


Ein schwerer Zugzusammenstoß bei Boxberg 
Ein Bremser tot. – Großer Materialschaden.

 



Amtlich wird gemeldet: In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag (28. auf 29. März) stieß der Schnellzug D 37 vor dem Bahnhof  Boxberg=Wölchingen infolge unrichtiger Signalbedienung auf einen vorausfahrenden Güterzug auf. Beide Hauptgleise sind gesperrt. Der Schlußbremser des Güterzuges ist tot. Die Schnellzüge werden über Hilfsstrecken umgeleitet, der Personenverkehr wird durch Umsteigen an der Unfallstelle aufrechterhalten. Voraussichtlich am Donnerstag abend wird der durchgehende Verkehr wieder aufgenommen werden können. 

Zu dem schweren Zusammenstoß meldet unser Heidelberger w=Korrespondent folgende Einzelheiten: 
Der Schnellzug nach Berlin über Würzburg, der um 8 Uhr abends Heidelberg verläßt, ist gestern, Mittwoch, abend um ½11 Uhr zwischen den Stationen Uiffingen und Boxberg auf einen vor ihm fahrenden Güterzug in schneller Fahrt aufgefahren. Der Anprall war sehr stark, sodaß einige Wagen des Güterzuges zertrümmert wurden und von den Lokomotiven des Schnellzuges die eine entgleiste und die andere umstürzte. Der im letzten Wagen des Güterzuges sitzende Bremser wurde getötet. Von dem übrigen Bahnpersonal und den Insassen des Schnellzuges wurde niemand verletzt. Der Materialschaden ist groß. Die Strecke war noch heute vormittag gesperrt, sodaß der Personenverkehr zum Teil über Heilbronn umgeleitet wurde, zum Teil konnte derselbe durch Umsteigen aufrecht erhalten werden.
Die Unglückstelle bietet ein Bild wüsten Durcheinanders. Die beiden Lokomotiven des Schnellzuges sind durch das plötzliche und scharfe Anziehen der Bremsen aus den Geleisen gesprungen und auf die Böschung geschleudert worden. 
Außer dem bisher gemeldeten einen Todesopfer wird bekannt, daß zwei weitere Personen verletzt sind. Die Verletzungen dürften jedoch leichterer Natur sein. Von dem Güterzug sind zwei Wagen vollständig  demoliert, während vom Schnellzug der Postwagen größtenteils und der Packwagen vollkommen ineinander geschoben wurden. Die Aufräumungsarbeiten sind im Gang, werden aber wahrscheinlich zwei Tage in Anspruch nehmen.




Anmerkung der Redaktion: Der Schnellzug D 37 ist natürlich nicht in Heidelberg – eine typische Fehlinterpretation aus Heidelberger Sicht – gestartet, sondern in Stuttgart.
Wesentlich ist, dass in der amtlichen Verlautbarung ein falsch gestelltes Signal („unrichtige Signalbedienung“) als Unfallursache genannt ist – eine Information, die in anderen Pressebeiträgen fehlt.
Die Interpretation des Korrespondenten, dass „das plötzliche und scharfe Anziehen der Bremsen“ die (Haupt)Ursache dafür war, dass die Lokomotiven „aus den Gleisen gesprungen sind“, kann angesichts der Unfallfotos und unserer Interpretation des Unfallhergangs (Rückprall durch den Aufprall) bezweifelt werden. Das harte Bremsen war dabei nur ein Verstärkereffekt.
Der gefundene Pressebericht hat das Geschehen mit weiteren Details ergänzt: es gab auch zwei Verletzte (was aber in der amtlichen Meldung nicht erwähnt wurde). Beim Schnellzug wurden der Post- und der Gepäckwagen ineinander geschoben (was ja genauso beabsichtigt war, da beide Wagen durch ihre Einreihung gleich hinter der Lokomotive bei Auffahrunfällen als „Pufferwagen“ fungieren sollten).